Vermeer — oder nicht

Jan Vermeer, Mädchen mit rotem Hut, 1666/67, (zugeschrieben) Mädchen mit Flöte, 1665/75 National Gallery of Art

Die National Gallery of Art (NGA) in Washington, DC, hat die Corona-Pause benutzt, um in Vorbereitung ihrer geplanten Ausstellung Vermeer's Secrets (Okt. 2022 bis Jan. 2023) weitere wissenschaftliche Untersuchungen zur Authentizität von Gemälden durchzuführen. Untersucht wurden auch das Mädchen mit rotem Hut und das Mädchen mit Flöte. Beide Bilder waren bzw. sind seit Jahren umstritten.

Beide Bilder sind recht klein und im Gegensatz zu Vermeers anderen Werken nicht auf Leinwand sondern auf Holztafeln gemalt. Zwischen den beiden Mädchen scheint eine gewisse Ähnlichkeit zu bestehen. Was die Provenienz anbelangt, so handelt es sich möglicherweise um die Objekte 39 und 40 aus dem Vermeer-Verkauf vom 16. Mai 1696. Der niedrige Preis — 17 Gulden — könnte auf ihre geringen Größe hindeuten. Das Mädchen mit rotem Hut wurde 1822 von Baron Louis Marie Atthalin (* 1784, † 1856) im Hotel de Bouillon in Paris gekauft und innerhalb der Familie weitergegeben. Später ging es über den New Yorker Kunsthändler Knoedler & Co an Andrew W. Mellon, der es 1937 der National Gallery of Art stiftete. Das Mädchen mit Flöte gelangte ebenfalls über Knoedler & Co sowie den US-Sammler Joseph E. Widener 1942 an die NGA.

Insbesondere die Tafelmalerei erregte immer wieder den Argwohn der Experten. Es wurde auch schon vermutet, daß es sich um französische Fälschungen aus dem frühen 19. Jahrhundert handelt. Aber schon ein Inventarverzeichnis von Vermeers Haus aus dem Jahr 1676 (kurz nach Vermeers Tod) enthält neben anderen Maluntensilien auch Holztafeln. Auch läßt sich der Wandteppich im Hintergrund des Mädchen mit rotem Hut gut mit bekannten flämischen Typen des fraglichen Zeitraumes vergleichen. Stilistische Diskrepanzen, wie bspw. die Löwenköpfe des Stuhles, die in die "falsche" Richtung blicken, scheinen arg weit hergeholt zu sein.

Auch wurde (und wird) oft angenommen, daß Vermeer die Bilder nicht ausschließlich alleine gemalt hat, sondern daß eine zweite Person an der Entstehung beteiligt war. Aber wer sollte das gewesen sein? — Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, daß Vermeer je einen Lehrling oder Schüler hatte.

An dieser Stelle wird gerne Maria Vermeer, die älteste Tochter von Jan Vermeer ins Spiel gebracht. Insbesondere in den letzten Jahren, als es der Familie finanziell sehr schlecht ging, soll sie als außerordentlich talentierte Malerin ihren Vater, ihre Familie, unterstützt habe. Allerdings mußte dies ein Geheimnis bleiben, da ihre Beteiligung den Wert der Bilder gemindert hätte. Es wird mitunter vermutet, daß ungefähr 1/5 der Bilder tatsächlich von Maria geschaffen wurden. Beim Mädchen mit rotem Hut soll es sich sogar um ein Selbsportrait von Maria handeln.

Erklärt wird diese Theorie mit stilistischen Brüchen in Vermeers Gesamtwerk. So scheinen manche Bilder eher dem "Blick einer Frau" zu entstammen — als dem eines Mannes. Weibliche Modelle würden eher als Subjekt, weniger als Objekt gesehen.

Als Beleg für diese These werden oft Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge (Mauritshuis, Den Haag) und das Bildnis eines jungen Mädchens (Metropolitan Museum of Art, New York) herangezogen:

Die visuelle perspektivische Genauigkeit der kleinen Gemälde ist wahrscheinlich auf Vermeers Verwendung einer Camera Obscura zurückzuführen. Diese führt auch dazu, daß das Vordergrundmotiv unerwartet groß erscheint. Vermeer war mit Antony van Leeuwenhoek (* 1632, † 1723) befreundet, der für seine Arbeiten mit optischen Instrumenten bekannt wurde. Es wird das Interesse an bildgebender Optik gewesen sein, was die Freunde zusammenführte. (Van Leeuwenhoek war später der Vollstrecker von Vermeers Nachlass.)

Beim Mädchen mit rotem Hut ist sich die NGA nach Abschluß der Untersuchungen mittlerweile sicher: Dieses Bild stammt von Jan Vermeer (* 1632, † 1675). Aber es kam auch zu einer Überraschung: Die Untersuchung der tieferen Farbschichten ergab, daß es sich ursprünglich um ein angefangenes rembrandteskes Portrait eines Mannes mit einem breiten Hut handelte, welches erst später in das Mädchen mit rotem Hut "umgemalt" wurde.

Das Mädchen mit Flöte erwies sich als problematischer. Da sind noch weitere Untersuchungen notwendig und die NGA will sich erst kurz vor Beginn der Ausstellung festlegen (oder auch nicht). Von Anfang an wurde das Bild nicht als "echter" Vermeer akzeptiert. Zwar gab es auch immer wieder mal andere Ansichten — aber keine allgemein akzeptierte Festlegung. Es läuft immer noch unter zugeschrieben. Möglicherweise hat Vermeer das Bild um 1665 begonnen und erst viel später fertig gestellt.

Da waren's nur noch drei…
Update 08. Oktober 2022: Die Experten der NGA haben sich festgelegt. Das Mädchen mit der Flöte ist kein Vermeer. Das habe man vermittels Pigmentanalysen und bildgebender Verfahren festgestellt. Zwar seien die gleichen Materialien verwendet worden und der Maler muß Vermeers Stil auch sehr gut gekannt haben, dennoch würden die Feinheiten in der Umsetzung fehlen. An dieser Stelle wird wieder Maria Vermeer, die älteste Tochter, ins Spiel gebracht. Möglicherweise habe sie das von Vermeer begonnene Bild nach dessen Tod fertig gestellt.
In manchen Medien war zu lesen, der Künstler habe Vermeers Stil schlecht nachgeahmt. Das ist natürlich ausgemachter Unfug. Auch wenn die Zuschreibung nie unumstritten war, bewegte sich das Bild seit Jahren am Rande des Vermeer-Kanons. Eine schlechte Nachahmung hätte es nie bis dorthin geschafft. Die wäre beizeiten als das erkannt worden, was sie ist. Nämlich eine schlechte Nachahmung. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Es handelt sich um eine ausgezeichnete Nachahmung, es bedurfte sehr fortschrittlicher Methoden, um sie zu enttarnen.

Unstreitig sind die beiden anderen Vermeers der NGA:

Aber auch die Untersuchung der Frau mit Waage verlief nicht ohne Überraschung: Aus Vermeers 22-jähriger Schaffensperiode sind nur etwa 35 Bilder bekannt. Deswegen wurde immer angenommen, daß Vermeer ein langsam und akribisch arbeitender Perfektionist war. Aber die Untersuchung der unteren Farbschichten zeigte schnelle, spontane, manchmal auch dick strukturierte Pinselstriche. Das stellt die bisherigen Annahmen über Vermeers Arbeitsweise in Frage.

Alle vier Gemälde sind auch für die große Vermeer-Retrospektive im Rijksmuseum Amsterdam (Feb. bis Jun. 2023) vorgesehen. Ein gelungener Coup für das Rijksmuseum, da sich die NGA bekanntermaßen nur sehr sehr ungern von allen ihren vier Vermeers gleichzeitig trennt.

Für Vermeer's Secrets ist vorgesehen, auch zwei bekannt falsche Vermeers auszustellen:

Beide Fälschungen entstanden vermutlich um 1925, als Vermeers Werke zu begehrten Sammlerobjekten geworden waren. Die beiden Bilder wurden 1937 von Andrew Mellon der NGA vermacht.

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