»Das alte lebendige Encyclopädische Dicktionair«

Johann Heinrich Tischbein d. Ä (Werkstatt), Christian Wilhelm Büttner, 1781 Kunstsammlung der Georg-August-Universität Göttingen

Christian Wilhelm Büttner (* 1716, † 1801) war ein deutscher Naturforscher und Chemiker der, obwohl er nie ein Studium abgeschlossen hatte, 1758 auf den Lehrstuhl für Naturgeschichte und Chemie an der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen berufen wurde.

Büttner hatte ein gewaltiges Ziel: Er wollte aus der Entwicklung der Sprache die Entwicklung der Menschheit rekonstruieren. Um dieses Ziel zu erreichen baute im Verlaufe seines Lebens eine umfangreiche Naturaliensammlung auf, die später den Grundstock des Academischen Museums Göttingen bildete. Der Verkauf wurde notwendig, weil weil er sich völlig verzettelt hatte und mit seinen Sammlungen auch seine Schulden wuchsen.

Seine umfangreiche Bibliothek und weitere Sammlungen verkaufte er 1781 für 40.000 Taler, eine Pension und freie Wohnung im Jenaer Schloß an Herzog Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach. Der Darmstädter Kriegsrat Johann Heinrich Merck hatte den Weimarer Hof 1779 auf den kuriosesten Büchersammler mit den Worten »Der alte Büttner sitzt unter Affen und Hunden, und im ganzen Haus riechts nach Katzen Piß. Aber einer ihrer größten Gelehrten, der 47 Sprachen versteht…« aufmerksam gemacht. Büttner war der lukrative Ankauf nur recht. Denn er durfte seine Bücher bei sich behalten, erst nach seinem Tod 1801 erfaßte und verteilte sie der Goethe-Schwager Christian August Vulpius als herzoglichen Besitz auf die Bibliotheken und Archive des Fürstentums. Als er die 1783 aus Göttingen nach Jena mitgebrachte Bibliothek 1802 abholen wollte, hatte sie sich schon wieder chaotisch vermehrt. Goethe sprach von 2.500 Dubletten, unausgepackten und ungebundenen Bänden, einer einzigen Gerümpel-Wirthschaft. Die Büttnersche Bibliothek zählt Goethe neben der Akademischen Bibliothek, der Schloßbibliothek und der Buderischen zu den vier bedeutenden Bibliotheken Jenas.

Seine Zeitgenossen hatten ein ambivalentes Verhältnis zu Büttner: Einerseits würdigten sie sein immenses Wissen, andererseits aber amüsierten sie sich auch über sein unelegantes Auftreten, seinen nicht enden wollenden Redefluß und sein Unvermögen, Forschungen auch zu beenden und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Goethe nannte ihn gegenüber der Frau von Stein nicht ohne Grund »Das alte lebendige Encyclopädische Dicktionair«. Büttner besaß aber genügend Selbstbewußtsein, um nicht unter diesen Spötteleien zu leiden.

Der Nachwelt hat Büttner nur wenig Publiziertes hinterlassen. Neben einigen Aussagen von Zeitgenossen, erhalten gebliebenen Korrespondenzen und dem handschriftlichen Nachlaß im Goethe- und Schiller-Archiv gibt es fast nichts.

Umso aufschlußreicher ist deswegen das Portrait, welches er für die Göttinger Professorengalerie höchstselbst in Auftrag gab. Es wirkt im ersten Moment konventionell und unspektakulär aber es zeigt ihn, wie er sich selbst gerne sah: Mit viel Symbolik inszenierte er sich als Universalgelehrten des 18. Jahrhunderts, voller inronischer Anmerkungen.

In der Hand hält er ein Stück Papier mit chinesischen Schriftzeichen. Sie stehen für wén und zi und sollen wahrscheinlich seine Faszination für fremde Sprachen ausdrücken. Immerhin sprach er selbst 47 Sprachen. Außerdem gilt die Linguistik als seine Lieblingswissenschaft. Die beiden Zeichen bedeuten auf deutsch Schriftzeichen. Unklar bleibt, warum Büttner sie in verkehrter Reihenfolge gemalt hat.

Der Ellbogen des Gelehrten ist auf ein zentrales Werk des Botanikers John Ray gestützt:

Im Hintergrund gibt es in einem Bücherregal noch mehr Bücher:

Oben stehen naturkundliche, unten sprachgeschichtliche Werke. Der erste Band steht auf dem Kopf weil sich der Autor, der englische Naturforscher John Woodward in seinem Essay towards the natural history of the Earth von 1702 für eine biblische Schöpfungsgeschichte stark machte und so ein rückschrittliches Bild der Natur vertrat. Als Empiriker konnte Büttner nicht mit einer solchen Auslegung einverstanden sein.

An Stelle des dritten Buches liegt ein Ausleihzettel von Büttners Schüler, Johann Friedrich Blumenbach, vom 10. Juni 1781, der ihn nicht nur an Bezügen übertraf, sondern jetzt auch noch den Gessner und den Camerarius weggeschleppt hatte.

Die Auswahl der Entleihungen zeigt anhand der vermerkten Titel die Methodik des wissenschaftlichen Arbeitens im 18. Jahrhundert: Büttner und Blumenbach traten für eine Naturerkenntnis und -praxis ein, deren methodischer Kern ein empirisches Vorgehen beinhaltete, das eigene Anschauung unter kritischer Bezugnahme überlieferter Wissensbestände mit messenden und experimentellen Verfahren verbinden wollte.

Dazu paßt auch der Zettel an der Wand hinter seinem Stuhl:

Hier verkündet Büttner auf Latein seine empirische Methode, wonach Erkenntnis allein durch Autopsieren, Zählen, Messen und Wiegen sowie aus Büchern zu erlangen sei.

Die auf dem Tisch befindlichen Objekte runden diese Aussage ab:

Maßstab, Zirkel, Waage, Trichter, Tintenfaß, Artefakte und unbeschriebenes Papier weisen den Gelehrten als messenden, wiegenden, systematisierenden und dokumentierenden Naturforscher aus.

Mit der Pflaume hat es eine besondere Bedeutung: Büttner tat sich Zeit seines Lebens schwer, seine großangelegten Sprachenforschungen zu veröffentlichen. Umso bedeutsamer war es für ihn, als er im Alter von über 60 Jahren doch noch den zweiten und letzten Teil seiner Vergleichungstafeln der Schriftarten verschiedener Völker herausgeben konnte. Die Pflaume verweist auf diesen späten Triumph. Auf dem Zettel steht: 65 anorum arboris. Wie der Baum in seinem 65. Lebensjahr noch Früchte trug, trug auch Büttners lebenslange Beschäftigung mit der Sprachenkunde im hohen Alter endlich Früchte.

Zudem geben Pflaume und Leihschein Auskunft über die sonst fehlende Datierung des Bildes. Es entstand 1781, nach dem Verkauf der Bibliothek an Herzog Carl August.

Büttner hat sich schließlich nicht gescheut, einen Seitenhieb unterzubringen. Eher unauffällig und doch an zentraler Stelle auf der Brettkante geschrieben, findet sich ein Hinweis auf Demokrit und die Abderiten. Büttner bezieht sich damit auf den satirischen Roman von Christoph Martin Wieland. Er erzählt die Geschichte der Abderiten und ihres einzigen aufgeklärten und vernunftbegabten Mitbürgers Demokrit, der versucht, die Einwohner seiner Stadt zu toleranten, humanen Kosmopoliten zu erziehen. Dabei stößt er besonders bei den bornierten Gelehrten auf erheblichen Widerstand. Offenbar erging es Büttner in Göttingen ähnlich, was ihn dazu veranlasste, seine erlesene Bibliothek an Carl August zu veräußern. Während dem Protagonisten in Wielands Roman eine Geisteskrankheit attestiert werden sollte, galt Büttner den Göttingern zeitlebens als Sonderling. Der Verweis auf Demokrit mag als Hieb gegen seine Göttinger Spötter gesehen werden.

Doch selbst Goethe charakterisierte Büttner als gutmüthigen Sonderling, der sich in einem herkömmlichen Unwesen eigensinnig gefiel. Und Büttner stimmte ihm mit seinem Portrait zu.

Über den Sammler Büttner schrieb Goethe kurz nach dessen Tod:

Die Eigenheiten dieses wunderlichen Mannes lassen sich in wenige Worte fassen: unbegränzte Neigung zum wissenschaftlichen Besitz, beschränkte Genauigkeitsliebe und völligen Mangel an allgemein überschauendem Ordnungsgeiste. Seine ansehnliche Bibliothek zu vermehren wendete er die Pension an, die man ihm jährlich für die schuldige Summe der Stammbibliothek darreichte. Mehrere Zimmer im Seitengebäude des Schlosses waren ihm zur Wohnung eingegeben, und diese sämmtlich besetzt und belegt. In allen Auctionen bestellte er Bücher, und als der alte Schloßvoigt, sein Commissionär, ihm einstmals eröffnete: daß ein bedeutendes Buch schon zweimal vorhanden sei hieß es dagegen: ein gutes Buch könne man nicht oft genug haben.

Büttner versuchte übrigens auch, eine Art Universal-Alphabet aus 47 verschiedenen Schriftzeichensystemen aus allen Weltregionen zu entwickeln. In umfangreichen Tabellen erfaßte er Buchstaben unterschiedlichster Sprachen und ihre möglichen Verwandtschaften.

Wer sich darob an Unicode erinnert fühlt, liegt wahrscheinlich nicht völlig falsch.

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