Das Mädchen mit dem Perlenohrring

Jan Vermeer, Das Mädchen mit dem Perlenohrring, 1665 Mauritshuis Den Haag

Eine junge Frau schaut den Betrachter über die Schulter an. Sie hält den Kopf leicht schief, ihre graublauen Augen glänzen, ihre Lippen sind leicht geöffnet und feucht. Auf ihrem Kopf trägt sie einen Turban, den sie aus zwei Stoffstücken gewickelt hat, einem blauen und einem gelben, und sie ist mit einem Perlenohrring geschmückt. Von diesem überdimensionalen Juwel in der Mitte der Komposition leitet sich der Titel des Gemäldes ab.

Das Gemälde bietet eine reichhaltige Kostprobe aller Aspekte von Vermeers virtuoser Maltechnik. Das Gesicht ist sehr weich modelliert, nicht sehr detailliert, aber mit allmählichen Übergängen und unsichtbaren Pinselstrichen. (Man bedenke an dieser Stelle wie es aussehen würde, wäre es ein Foto. Würde der Realismus der Fotografie dem Bild nicht eher schaden?) Die Kleidung ist eher schematisch dargestellt und mit kleinen Farbpunkten belebt, die reflektiertes Licht suggerieren – eines der Markenzeichen von Vermeer. (Auch hier: Genau das Weglassen der fotografischen Details "macht" das Bild.) Gleichwohl weist der Künstler deutlich auf Materialunterschiede hin – etwa zwischen dem pastos gemalten weißen Kragen und der trockeneren Farbe des Turbans, für die er das kostbare Pigment Ultramarin verwendet. Aber das bemerkenswerteste Detail ist die Perle. Diese besteht aus kaum mehr als zwei Pinselstrichen: einem hellen Highlight oben links und der weichen Reflexion des weißen Kragens auf der Unterseite.

Ausschnitt Perle

Niederländische Mädchen des 17. Jahrhunderts trugen keine Turbane. Mit diesem Accessoire hat Vermeer dem Mädchen eine orientalische Note verliehen. Bilder wie dieses waren im 17. Jahrhundert als Tronies bekannt. Tronies sind keine Porträts: Sie wurden nicht angefertigt, um ein möglichst individuelles Abbild zu erzeugen. Obwohl es wahrscheinlich einen Sitter (Modell) gegeben hatte, bestand der Sinn einer Tronie hauptsächlich darin, einen Kopf zu studieren, der einen bestimmten Charakter oder Typ darstellte. Rembrandt hatte um 1630 Tronies in der niederländischen Kunst populär gemacht. Er fertigte Dutzende von ihnen an, wobei er sich oft selbst als Modell benutzte und manchmal eine bemerkenswerte Mütze oder einen Helm trug.

Die Perle ist zu groß, um echt zu sein. Vielleicht trägt das Mädchen einen Perlentropfen aus Glas, der matt glänzend lackiert wurde. Eine andere Möglichkeit ist natürlich, dass die Perle ein Produkt von Vermeers Fantasie war. Perlen – sowohl echte als auch künstliche – waren in der Zeit von etwa 1650 bis 1680 in Mode und galten damals als die teuersten Schmuckstücke überhaupt, wertvoller als Diamanten. Sie sind oft in Gemälden von Frans van Mieris, Gabriel Metsu und Gerard ter Borch zu finden.

Das Mädchen mit dem Perlenohrring ist der Öffentlichkeit erst seit 1881 bekannt, als es im Venduhuis der Notarissen in Den Haag versteigert wurde. Am Besichtigungstag erregte es die Aufmerksamkeit des einflussreichen Kulturfunktionärs Victor de Stuers, der zusammen mit seinem Freund und Nachbarn, dem Kunstsammler AA des Tombe, dort war. Der Überlieferung nach erkannte De Stuers das Gemälde, obwohl es stark vernachlässigt worden war, als Vermeer. Einer anderen Version der Geschichte zufolge war das Gemälde zu schmutzig, um es richtig beurteilen zu können und die Identität des Malers wurde erst später klar, als die Reinigungsaktion seine Urheberschaft enthüllte. Wie dem auch sei, de Stuers und Des Tombe einigten sich darauf, nicht gegeneinander zu bieten und Des Tombe erwarb das Gemälde daher für die unbedeutende Summe von zwei Gulden plus dreißig Cent Aufschlag.

Des Tombes Sammlung, die sowohl Werke von Zeitgenossen als auch von alten Meistern umfasste, war in seinem Haus in der Parkstraat 26 in Den Haag für Besucher geöffnet. Der zukünftige Direktor des Mauritshuis, Abraham Bredius, war der erste, der die Vorzüge des Mädchens mit dem Perlenohrring lobte, als er es 1885 in der Parkstraat sah: Vermeer überschattet alle anderen; der Kopf des Mädchens, so hervorragend modelliert, dass man beinahe vergisst, dass man ein Gemälde betrachtet, und dieser einzelne Lichtschimmer wird allein Ihre Aufmerksamkeit fesseln. Als Des Tombes am 16. Dezember 1902 starb stellte sich heraus, daß er ein geheimes Testament gemacht hatte, in dem er dem Mauritshuis zwölf Gemälde vermachte, darunter das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge.

(Dies ist eine überarbeitete Version eines Textes, veröffentlicht in: P. van der Ploeg, Q. Buvelot, Royal Picture Gallery Mauritshuis: A princely collection, Den Haag 2005, S. 256-258)

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