Tableau vivant: St. Georg und die Prinzessin

Lewis Carroll, St. Georg und der Drachen, 26. Juni 1875. MET

1872 ließ Lewis Carroll über seinen Räumen in der Christ Church (Oxford) ein Atelier errichten, damit er auch bei schlechtem Wetter fotografieren konnte. Mit Koffern voller Spielzeug und Kostümen aus dem Drury Lane Theatre war das Glashaus ein Paradies für Kinder. Xie (Alexandra) Kitchin, ein schönes und fotogenes Kind, war in den 1870er Jahren Carrolls Muse. Sie wurde 1864 geboren und war die Tochter von George William Kitchin, einem Kollegen und alten Freund aus Carrolls Studienzeit in Oxford. Carroll fotografierte Xie mehr als jedes andere seiner Models, oft in exotischen Kostümen gekleidet.

In diesem Tableau vivant spielt Xie die Prinzessin für ihren Bruder, der den heiligen Georg darstellt. Ein weiterer Ritter-Bruder ist dem Leopardenfell-Drachen zum Opfer gefallen. Die Prinzessin, eindeutig im Mittelpunkt des Bildes, ist zum Opfer bereit, obwohl das Schwert des Heiligen Georg die einzige Bedrohung zu sein scheint. Der Fotograf versetzt hier die Kinder in die Rollen von Erwachsenen und schafft so eine scheinbar unschuldige Vignette; Es ist jedoch eine, die der moderne Betrachter voller Doppeldeutigkeiten finden wird.

Als Lewis Carroll 1856 mit der Fotografie begann, wollte er unter dem Einfluß präraffaelitischer Ideen (er hatte Kontakt zu William Holman Hunt, John Everett Millais und Arthur Hughes) seine eigenen Vorstellungen, in denen der menschliche Körper und der menschliche Kontakt ohne falsche Scham genossen werden konnten, mit den Idealen von Freiheit und Schönheit zur Unschuld des Paradieses kombinieren. Über 24 Jahre hinweg schuf er um die 3.000 Bilder, weniger als 1.000 haben Zeit und Zerstörung überlebt.

Lewis Carrol, Xie Kitchin mit Regenschirm, um 1875

Über 50 Prozent der Fotografien stellen junge Mädchen dar. Alexandra Kitchin, bekannt als Xie, war mit über 50 Aufnahmen ab 1869 sein Lieblingsmodell bis zum Jahr 1880, als Carroll das Fotografieren beendete und Xie kurz vor ihrem 16. Geburtstag stand. Diese und andere Bilder waren die Ursache von Vermutungen über Carrolls pädophile Neigungen. In Carrolls Briefsammlung Briefe an kleine Mädchen sowie auch in seinen Tagebüchern wird offensichtlich, dass er ein überdurchschnittliches Interesse an kleinen Mädchen hatte. Daß die Basis für dieses Interesse ein pädophiler Hintergrund Carrolls wäre, ist jedoch nicht belegt. Vielmehr wurden wahrscheinlich sozialhistorische Zusammenhänge wie die viktorianischen Ansichten gegenüber kindlicher Nacktheit vernachlässigt und so falsche Schlüsse gezogen. In jener Zeit haben einfach viele Künstler und Fotografen Kinder portraitiert. Solche Bilder drückten nichts weiter als Unschuld aus und waren sehr beliebt.

Lewis Carroll (* 1832, † 1898; eigentlich Charles Lutwidge Dodgson) war nicht nur Fotograf, Mathematiker und Diakon sondern vor allem auch Schriftsteller. Er ist der Autor der Kinderbücher Alice im Wunderland, Alice hinter den Spiegeln und The Hunting of the Snark. Seine Befähigung für Wortspiel, Logik und Fantasie schaffte es, weite Leserkreise zu fesseln.

Seine Werke, als sogenannte Nonsense-Literatur bezeichnet, beeinflußten nicht nur die Kinderliteratur sondern auch Schriftsteller wie James Joyce, Surrealisten wie André Breton, Maler und Bildhauer wie Max Ernst, Kognitionswissenschaftler wie Douglas R. Hofstadter sowie Musiker und Komponisten  wie John Lennon.

Carrolls Bekanntheit als Fotograf gründet auch darauf, daß er wie Julia Margaret Cameron oder Oscar Gustave Rejlander bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Fotografie als Kunst betrieb.


Als Tableau vivant (frz. lebendes Bild) bezeichnet man eine szenische Darstellung durch lebende Personen. Das heißt, die Personen posieren nicht einfach nur, sondern stellen ein konkretes Bild einer konkreten Geschichte dar. Die Idee dieser lebenden Bilder ist schon sehr alt, wurde aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer weit verbreiteten Mode. Diese Verbreitung ging hauptsächlich auf Madame de Genlis, die Erzieherin der Kinder des Herzogs von Orleans, zurück. Sie soll zur Belehrung und Unterhaltung ihrer Zöglinge solche Darstellungen arrangiert haben. Der französische Fotograf Olympe Aguado trug ebenfalls stark zur Verbreitung bei. Er schuf in der ersten Hälfte der 1860er Jahre derartige bei der Aristokratie und der Bourgeoisie beliebte tableaux vivants, die er mit seiner Familie inszenierte, die aber nie ausgestellt wurden.

Lebende Bilder im engeren Sinn sind keine Solodarbietungen (Attitüden), sondern Gruppenbilder. Bekannt sind die Aufführungen der Oberammergauer Passionsspiele, die zahlreiche lebende Bilder aus dem Alten Testament darstellen. Auch bei höfischen oder bürgerlichen Festen ware sie sehr beliebt. Sie waren integrale Bestandteile von Militärparaden, Bühnen- und Gesellschaftstänzen. Geeignete Beleuchtung und auch Musikbegleitung verstärkten ihre Wirkung. Jean Sibelius komponierte etwa seine Tondichtung Finlandia (1900) für eine Folge lebender Bilder. Bis in die heutige Zeit findet sich die Idee des lebenden Bildes in sogenannten stehenden Umzügen insbesondere bei Dorf- und ähnlichen Festen.

Lebende Bilder wurden im 19. Jahrhundert auch zu einem zentralen szenischen Gestaltungsmittel auf der Theaterbühne. Sie wurden häufig eingesetzt, um einen klaren Abschluß bewegter Aktionen anzuzeigen. Während der Vorhang fiel, erstarrten die Schauspieler zu einer unbeweglichen Gruppe. Im Textbuch fand sich hierfür extra die Anweisung Gruppe.

Sogenannte Gruppenbücher lieferten Vorlagen für lebende Bilder zu jeder Gelegenheit. Das frühe Turnen bspw. bestand zum großen Teil aus dem Einstudieren lebender Bilder, oft mit patriotischen Sujets, auch unter Verwendung von Requisiten wie Reifen, Bändern oder Fahnen. Das moderne Cheerleading ist eine Weiterführung dieser Tradition, wenngleich sich heutzutage oft das Bild von einer konkreten Erzählung löst und mehr auf die Wirkung des Bildes gesetzt wird. Das Posieren zur Nationalhymne oder für ein Foto stammt ebenfalls von den lebenden Bildern her. Noch heute bilden Tänzer nach einem Tanz oder Artisten zum Applaus nach einem gelungenen Trick eine Gruppe (das sogenannte Kompliment).

Einen Sensationswert bekamen lebende Bilder zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als sie von nackten Darstellern wie Olga Desmond präsentiert wurden. In Revues wurden seinerzeit Nackte geduldet, solange sie sich nicht bewegten. Typisch etwa im Windmill Theatre London, wie es im Film Lady Henderson (2005) gezeigt wird.

In der Fotografie wird der Ausdruck lebende Bilder oft für eine gestellte, besonders symbolhaft wirkende Komposition verwendet, die an Historien- oder Genremalerei erinnert.

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