Johnny

Edward Weston, Johnny, 1944 MoMA

Der Piktorialismus ist eine fotografische Stilrichtung mit dem Ziel, nicht lediglich ein bloßes, einen Augenblick in der Realität festhaltendes Abbild des Motivs herzustellen. Vielmehr ist es die Absicht, die Fotografie als vollwertiges künstlerisches Ausdrucksmittel zu betrachten.

Der Ursprung des Piktorialismus begann mit der Diskussion, ob die Fotografie eine Kunst sei oder jemals eine werden könne. Für Portraits oder Reportagen hatte sich das neue Medium rasch durchgesetzt. Die Frage nach der künstlerischen Anwendung blieb zunächst unbeantwortet. Das Hauptargument dafür, die Fotografie könne keine Kunst sein, war, Fotografie sei ein technischer Vorgang, bei dem der Fotograf nichts anderes mache, als den Auslöser zu betätigen. Die Fotografie sei also ein simples Abbild der Natur, während "wahre Kunst" (was ist das?) eine Verarbeitung sein müsse. Aus dem von der Natur angebotenen Farben- und Formenreichtum müsse der bildende Künstler auswählen, um die beabsichtigte Aussage zu treffen.

Die Bildsprache der piktorialistischen Fotografie ist der Versuch, mit fotografischen Mitteln eine einem Gemälde ähnliche Bildwirkung zu erzeugen. Um dem Vorwurf der simplen Dokumentation der Realität zu entgehen, sind viele der Fotografien verschwommen und stimmungsvoll. Stilistisch orientiert sich der Piktorialismus zunächst insbesondere am Naturalismus (liegt in der Natur der Fotografie) in der Malerei, dann aber auch am Impressionismus und Symbolismus. Merkmale sind häufig verringerte Konturenschärfe, nebelartig zerstreute Lichtführung, sorgfältige Wahl des Ausschnitts, fließende Übergänge, Vorliebe für Nacht- und Nebelszenen, "künstlerische" Sujets (Landschaften, Porträts, Akte). Spuren der Industrialisierung werden möglichst vermieden (bewußte Ausnahmen!), mit Vorliebe zeigen die Piktorialisten Landschaften, idyllische Szenen, gerne mit einer romantisch in den Vordergrund platzierten Person, Portraits und Akte.

Es werden oft arbeitsaufwändige Techniken angewendet. Inhaltsverändernde Retouchen sind vollauf akzeptiert. Zur Abgrenzung von der Massenfotografie zählt auch die intensive Nachbearbeitung der Abzüge zu den bevorzugten Techniken, wenngleich diese heutzutage durch die digitale Nachbearbeitung der Bilddateien weitgehend abgelöst wird. Häufig ist das Negativ (heute die Bilddatei) nur eine Art Skizze, die erst im Ablauf von Entwicklung und Abzug zur Kunst wird. Bei der Ausarbeitung bedient man sich oft sehr aufwändiger Edeldruckverfahren, was die künstlerische Wirkung zusätzlich untermauert.

Piktorialistische Fotografien hinterlassen oft nur einen geringen Eindruck von Schärfe und Tonwertreichtum auf den Betrachter. Dennoch werden die Ursprungsbilder meist mit dem vollen möglichen Tonwertumfang und dem Stande der Technik entsprechender Schärfe aufgenommen.

Die theoretischen Grundlagen des Piktorialismus waren die Schriften Pictorial Effect in Photography von Henry Peach Robinson (* 1830, † 1901), erschienen 1869, und Naturalistic Photography for Students of the Arts von Peter Henry Emerson (* 1856, † 1936) (1889).

Speziell auf das zweite Buch gehen die Bemühungen heutiger Fotografen zurück, insbesondere in der Portrait-Fotografie ein besonders schönes Bokeh (von japanisch 暈け, auch ぼけ oder ボケ geschrieben bokeunscharf, verschwommen), also einen Bereich gewollter Unschärfe, meist im Hintergrund des Hauptmotivs, zu erzeugen. Dabei ist weniger das Maß der Unschärfe ausschlaggebend sondern dessen Aussehen (Ringe, Kreise). Diese Absichten stützen sich auf physiologische Erkenntnisse, vor allem auf die Arbeiten von Hermann von Helmholtz (* 1821, † 1894), zum menschlichen Sehen. Allerdings kennen die meisten heutigen Fotografen hiervon oft nur wenig mehr als den Begriff der künstlerischen Unschärfe.

Die bestehenden Fotografiegesellschaften waren den frühen Piktorialisten oft zu sehr mit technischen und kommerziellen Fragen beschäftigt. Piktorialistisch (pictorialistic) würde mit künstlerisch gleichgesetzt. Deswegen kam es zu Abspaltungen, deren  Zentren sich in London (Linked Ring) und New York (Photo-Secession) entwickelten.

Der Piktorialismus entwickelte sich etwa ab dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg und fand einen ersten Höhepunkt in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Der Piktorialismus wird oft hart als bloße Imitation der Malerei kritisiert, der die eigentlichen Eigenschaften der Fotografie verleugnen würde. Es war jedoch der Piktorialismus selbst, der die Fotografie als Kunst etablierte und damit diese späteren Kritiken so überhaupt erst ermöglichte. Die mitlerweile voll etablierte digitale Fotografie mit all ihren erweitertetn Möglichkeiten der Bildmanipulation schafft hier völlig neue Betätigungsfelder.

Nancy Newhall, Edward Weston with his cats at Wildcat Hill, 1940
(Collection of Paul M. Hertzmann, Inc. ©1940, Nancy Newhall, ©2019, the Estate of Beaumont and Nancy Newhall. Permission to reproduce courtesy of Scheinbaum and Russek Ltd., Santa Fe, New Mexico)

Edward Weston (* 1886, † 1958) war einer der bedeutendsten Vertreter einer konträren Strömung, die sich als Anwort auf den Piktorialismus entwickelte. Er war Mitbegründer der Gruppe f/64 und einer der maßgeblichsten Protagonisten der Neuen Sachlichkeit in der Fotografie.

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