Eine längst vergangene Zeit
Der folgende Text ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich habe ihn, völlig schamlos, aus dem Usenet geklaut, wo er am 23.09.2022 erschienen war. Er ist ein vielleicht etwas wehmütiger aber dennoch sehr plastischer Rückblick auf eine Zeit, die so nie wiederkehren wird.
Bäume muss man pflegen und die Menge derer, die sich damit, geschweige denn überhaupt mit Gartenarbeit, nicht auskennen, scheint größer zu werden. Und ständig bekommt man es mit Leuten zu tun, die die verschiedenen Baumsorten nicht auseinanderhalten können.
Letztens ist bei einem Spaziergang auf einem Schotterweg im Streuobstwiesengebiet mal wieder eine maximal 20 Jahre alte/junge Autofahrerin an mir vorbeigefahren, die zu einer bestimmten Grillstelle am Waldrand wollte, und hat nach dem Weg gefragt, weil offenbar das "Navi" nicht weiter geholfen hat. Als ich ihr sagte, dass sie etwa 2.3 Kilometer stur auf dem Weg weiterfahren und alle Abzweigungen ignorieren muss, bis der Weg sich Y-förmig gabelt, und zwar an der ersten Stelle auf der Wegstrecke, bei der zu ihrer Linken Walnussbäume stehen, um dort dann die Gabelung rechts hochzufahren, bergauf, Richtung Waldrand, wo dann auch gleich das Parkplätzchen und die Lichtung mit der Grillstelle ist, hat sie das überfordert, weil weder sie noch die anderen jungen Damen im Auto wussten, wie man Walnussbäume erkennt/von anderen Bäumen unterscheidet.
Das Problem hat sich dadurch erledigt, dass ich den Damen sagte, dass die Grillstelle, zu der sie wollen, schon seit einigen Wochen aufgrund der Trockenheit wegen Brandgefahr gesperrt ist, und dass das auch in der Zeitung und im Gemeindeblatt und im Internet bekannt gegeben worden ist und das vor Ort auch ein Schild steht, welches darauf aufmerksam macht, so daß sie da allenfalls auf den Holzbänkchen Rast machen und plaudern aber derzeit kein Feuer machen dürfen. Hatten sie nicht mitgekriegt — auf die Idee, sich im Rahmen der Vorbereitung ihrer Vorhaben über die Lage vor Ort schlau zu machen, waren sie nicht gekommen. Stattdessen hatten sie sich offenbar ganz auf das unausgegorene Pläneschmieden irgendwelcher Jungs verlassen.
Was ich dabei auch nicht ganz verstehe, ist, was die Leute heutzutage alles im Auto zum Grillen mitschleppen, und dass Wochenendes die ganzen Parkplätze voll sind mit Autos. Dann stehen die Autotüren offen und die Musik schallt heraus und hin und wieder bleiben Autos wegen leerer Batterien liegen. Oder ein Dieselgenerator mit angeschlossener Musikanlage schnettert vor sich hin. Und sperrige am Zigarettenanzünder vom Auto angeschlossene Kühlboxen und lauter so Zeug. Das wäre mir schon von der Materialschlacht-Logistik her zu nervig.
Zu meiner Zeit hatte man einen Rucksack; jeder hat ein paar Holzscheite eingepackt, sein Essen und seine Feldflasche und ein Holzbrettchen und Besteck und Trinkbecher für die eingeladenen Damen oben drauf, bei romantischen Ambitionen Pariser in die Hosentasche zum Taschenmesser gesteckt, und dann hat man sich zu Fuß an der Grillstelle getroffen. Ich habe ein Waffeleisen, mit dem man über der Glut zB Schinken-Käse-Waffeln backen kann. Damit, oder wenn ich Rauchfleisch, Butterschmalz, Pfanne und Eier dabei hatte, war ich sehr beliebt. Für Musik brauchten wir keine Dieselgeneratoren sondern hatten Musikinstrumente und Stimmen. Ich habe eine Mundharmonika und eine Ukulele, und meine schlimmsten Konkurrenten waren die Gitarre- und Melodikaspieler, die einem bei den Mädels die Schau gestohlen haben.
Als wir noch Lausbuben waren haben wir auf Grashalmen gepfiffen oder leere Bierflaschen unserer Väter als Panflöten benutzt. Wir haben uns mit dem Taschenmesser auch kleine Pfeifen aus Holunder- oder Weiden- oder Haselnusszweigen geschnitzt. Heutzutage darf ein Lausbub kein Taschenmesser mehr haben, weil das für heutige Helikopter-Eltern keinen Gebrauchsgegenstand sondern eine gefährliche Waffe darstellt.
Neulich hatte ich mit einem Elfjährigen zu tun, der bestens wusste, wie man auf dem Tablet-PC Tok Tok aufruft, aber weder in der Lage war, sich von einem Laib Brot einen Kanten abzuschneiden noch in der Lage war, einen Papierflieger zu basteln. Und große Bedenken hatte, ob er Schimpfe bekommt wenn seine Mutter erfährt, dass er mein Taschenmesser angeschaut hat. Und wegen der warmen Klappe meines Holzofens ängstlich war. Ein einziges Bündel an Bedenken und Zögerlichkeit. Hat mir leid getan.
Eine hatten wir früher immer dabei, die ab ihrem zwölften Lebensjahr querschnittsgelähmt war und ihre Hüfte und ihre Beine nicht bewegen konnte. Ihr Vater hatte für sie eine Art Zweiräderkarren-Sitz mit Fahrradrädern links und rechts zusammengeschweißt, in dem sie sitzen konnte während wir sie durch die Wälder und Obstbaumwiesen gezogen haben damit sie auch an die frische Luft kommt und etwas von der Welt sieht. Das Ding hatte vorne eine Deichsel an der bis zu vier Mann anpacken konnten — in der Ebene auf guten Wegen hat ein Mann gereicht — und hinten konnte man links und rechts zwei S-förmige Rohre über die Tragegriffe an der Rückenlehne stecken und festmachen und auf die Schulter legen, sodass die Leute an der Deichsel den Karren mit lang ausgestrecktem Arm tragen konnten während die Leute an der Rückenlehne das Ding über die Rohrstangen auf der Schulter aufliegen hatten.
An Stellen, wo das Gelände unwegsam wurde, konnte man sie darin zu mehren bequem durch die Landschaft tragen. Wenn ihre Eltern damals gewusst hätten, was für Abhänge wir sie rauf und runter schleppen, und auf was für Trampelpfade wir uns begeben, und was das damals manchmal für Wackelpartien waren, wäre ihnen vermutlich ganz anders geworden.
Heute vormittag war ihre Beerdigung.
Es gab tatsächlich kurz Überlegungen, ob der Zweiräderkarren von damals noch da sei und sich vielleicht zum Katafalkwagen umrüsten lasse, damit wir sie noch einmal so wie früher gemeinsam transportieren und ihr dabei das letzte Ehrengeleit geben könnten. Aber wir haben den Sarg dann doch lieber ganz normal getragen. Wenn sie hätte sehen können, dass mein alter Anzug mir wieder passt, hätte sie mich vermutlich aufgezogen, weil ich ihn in weiser Voraussicht, in der Annahme, dass er mir ja vielleicht mal wieder passen könnte, über die Jahrzehnte aufgehoben habe.
(…)
Mit freundlichem Gruß
Ulrich
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