Ein Selfie

Zinaida Serebriakova, Selbstportrait vor dem Spiegel, 1909

Alles an diesem Bild wirkt absolut modern. Nur die Kerzen und Hutnadeln auf dem Schminktisch zeigen, daß es aus einer vergangenen Zeit stammt. Ohne fällt es schwer zu glauben, daß es kein figuratives Kunstwerk über moderne Eitelkeit und die Besessenheit von Selfies ist.

Und doch ist am Selbstportrait der Sinaida Jewgenjewna Serebrjakowa (* 1884, † 1967) nichts Eiteles. Es ist erfrischend ehrlich, zutiefst lebendig und zutiefst glücklich. Was man sieht ist ein scheinbar banaler Moment – ​​eine junge Frau, die sich im Spiegel die Haare kämmt – und doch verzaubert die schlichte Komposition und die herrlich zarten Farben. Es sind die Augen von Sinaida, die am lautesten sprechen. Ihr Gemälde erinnerte an diese Zeile aus Victor Hugos Les Miserables, die Fantine beschreibt:

Sie kaufte einen Spiegel, bewunderte darin ihre Jugend, ihr schönes Haar, ihre feinen Zähne. Sie vergaß viele Dinge, sie dachte nur an Cosette und die mögliche Zukunft und war beinahe glücklich.

Es ist auch ein Beweis für die alte Vermutung, daß Frauen sich (oder andere Frauen) ganz anders malen als Männer. Die Brillanz von Serebrjakowas Selbstportrait spricht für sich und ergibt keine Notwendigkeit, weiter darauf einzugehen.

Sinaida Serebrjakowa wurde in einer Familie berühmter, erfolgreicher und anspruchsvoller Maler in Charkow, Ukraine, damals Teil des Russischen Reiches, geboren. Sie erhielt eine hervorragende Ausbildung, einschließlich einer Tutorenzeit bei dem russischen Meister Ilja Repin. Im Rahmen ihres Studiums ging sie nach Rom und Paris. Das Selbst-Portrait malte sie in ihren sogenannten Glücklichen Jahren, als sie und ihre Familie aufblühten. Die Oktoberrevolution von 1917 änderte alles und ihr Leben nahm eine Talfahrt. Ihr Kunststil paßte nicht zum damals von den Sowjets bevorzugten hypermodernen Futurismus und Konstruktivismus. Ihr Mann war auch gestorben. 1924 ging sie schließlich nach Frankreich und blieb dort für den Rest ihres Lebens. In den 1960er Jahren erlebte Serebriakovas Kunst ein Wiederaufleben und sie wurde durch eine seltsame Wendung des Schicksals zu einer der beliebtesten Künstlerinnen der Sowjetunion. Und vor dem Ende ihrer Tage wurde Serebrjakowa 1960 auch mit ihrer Tochter (die in der UdSSR verblieben war) wiedervereinigt. Sie hatte sie 36 Jahre lang nicht gesehen.

Die Kunst des 20. Jahrhunderts läßt sich nur schwer einordnen. Es war eine Zeit so schneller Entwicklungen und häufiger Turbulenzen, daß ein Stil sich kaum etabliert hatte, als er schon wieder entweder zurückgelassen oder in hundert neue Unterbewegungen zersplittert wurde. Bestenfalls könnte man das Selbstbildnis als postimpressionistisches Gemälde bezeichnen. Darin ist sicherlich mehr vom Paris der Jahrhundertwende, als von Ilja Repins Realismus. Aber vielleicht sollte man sich nicht zu sehr bemühen, Sinaida Serebrjakowas wunderbares Selbstporträit zu kategorisieren und damit in eine Schublade zu stecken. Man sollte es nehmen, wie es ist, mit all seiner auffallenden Modernität und seiner erfrischenden, auffallenden Ehrlichkeit.

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