Das kleine große Pferd
Der kleine Kupferstich von Albrecht Dürer (* 1471, † 1528) ist mit 16,7 mal 11,7 cm nur unwesentlich größer als eine Postkarte. Geradezu winzig für ein Großes Pferd. Der Stich wurde in einer Auflage von 200 bis 500 Stück gefertigt. In öffentlichen Sammlungen sind heute noch etwa 25 Exemplare erhalten.
Das Pferd steht, grell beleuchtet, bildeinwärts vor dunklen, antik anmutenden Ruinen-Silhouetten. Direkt vor seinem Kopf ist eine hoch aufragende Säule, auf deren Plinthe nur noch die Füße einer Statue zu sehen sind. Es wirkt durch seine muskulöse Massigkeit wie ein Schlachtross, ist aber gleichzeitig standhaft und fügsam. Anders als bei Dürers Meisterstich Ritter, Tod und Teufel ist das Pferd auch ungesattelt. Ein behelmter Krieger mit Hellebarde wird von ihm verdeckt. Durch die Verdeckung wirkt es, als würde der Kopf des Kriegers aus dem Pferdeleib herauswachsen, die Beine des Kriegers scheinen die Vorderhufe des Pferdes zu verdoppeln. Es könnte daurch auch ein Zentaur oder eine Chimäre sein. Ob Dürer mit dem Hellebardier angesichts seines Helmes und der antiken Ruinen einen Römer gemeint hat?
Das Große Pferd steht im Kontrast zum Kleinen Pferd aus dem gleichen Jahr.
Das kleine Pferd wirkt deutlich wilder, ungestümer, bei weitem nicht so zahm, wie das große Pferd. Mitunter wird angenommen, daß es sich bei beiden Tieren um das gleiche Pferd in verschiedenem Alter handelt. Ob das große Pferd durch Zurückhaltung und Erfahrung den Höhepunkt seiner Fähigkeiten erreicht hat?
Die Hinterhufe des großen Pferdes stehen auf einer etwas erhöhten Steinplatte. Das macht Dürer zwar perspektivisch das Leben schwer, läßt das Pferd aber auch wie ein Denkmal wirken. Offenbar eine Herausforderung für Dürer, denn für seine kunsttheoretische Schrift zur Proportionslehre hatte er ein eigenes Kapitel über die Maße von Pferden vorbereitet. Er hatte sogar ein Konstruktionsschema für die ideale Darstellung von Pferden entwickelt. Letztlich blieb es dann aber doch bei menschlichen Proportionen.
(Das Buch gilt als eines der herausragenden Quellenwerke zur Kunst und Kunsttheorie der europäischen Renaissance.)
Künstler von Rang wie Dürers Freund Hans Baldung Grien (* 1484/85, † 1545) oder Caravaggio (* 1571, † 1610), der Erfinder des Barock, haben Dürers Pferd zitiert. Es wird oft als Rätselkunst par excellence angesehen.
Der Stich gehört seit 1851 der Bremer Kunsthalle und wurde zusammen mit fünfzig Gemälden, fast zweitausend Zeichnungen und mehreren Tausend Stück Druckgraphik 1943 in das Schloss Karnzow in der Mark Brandenburg ausgelagert. Kurz nach Ende des Krieges wurde das Versteck in Karnzow entdeckt und geplündert. Ein Soldat aus Usbekistan nahm den Kupferstich mit und verschenkte ihn offenbar in seiner Heimat weiter. Ein Nachkomme der damals Beschenkten lebt heute in Kanada, fand den Kunsthallen-Stempel auf der Rückseite und informierte den Bremer Kunstverein, um das Blatt im Jahr 2021 zurückzugeben.
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