Das Geheimnis von Melun

Jean Fouquet, Diptychon von Melun, um 1456

In der Malerei ist ein Diptychon ein aus zwei Teilen bestehdes Bild, bei dem beide Teile mit Scharnieren miteinander verbunden sind. Das ermöglicht es, das Bild gewissermaßen auf- und zuzuklappen. Diptycha traten zuerst in Italien auf, ab dem frühen 14. Jh. dann auch in Deutschland.

Häufig wurde auf der einen Seite des Diptychons der Stifter dargestellt, auf der anderen Seite dann eine Heiligenfigur, der sich der Stifter besonders verbunden fühlte. Diese Diptycha waren oft Gegenstand einer eher privaten Andacht. Später dann gab es auch rein profane Diptycha, die bspw. aus Anlaß einer Verlobung oder Heirat gefertigt wurden.

Das oben gezeigte Diptychon von Melun malte Jean Fouquet (* um 1420, † zwischen 1478 und 1481) um 1456 im Auftrag von Étienne Chevalier, dem Schatzmeister des Königs Karl VII.. Es zeigt im linken Bild den knieenden und betenden Stifter Étienne Chevalier und rechts seinen Namenspatron, den hl. Stephanus (erkennbar an seinen Attributen, der Kopfwunde, dem Stein und dem Evangeliar), der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hat.

Die rechte Seite zeigt eine Darstellung der hl. Mutter Maria mit dem Jesuskind. Es ist umstritten, ob eine real existierende Person zum Vorbild der Darstellung der Maria wurde. Möglich ist, daß es sich einfach um ein unpersönliches, zeitgenössisches Schönheitsideal handelt. Ebenso möglich ist aber, daß es sich um eine Darstellung der Agnès Sorels, der Mätresse König Karls VII., handelt. Agnès Sorels galt ihren Zeitgenossen als "schönste Frau der Welt" und war mit Étienne Chevalier bekannt, den sie nach Kräften förderte. Allerdings hätte eine derartige Darstellung der Mätresse des Königs als Muttergottes leicht als Blasphemie empfunden werden können. Auffällig ist, daß Maria dem Jesuskind nicht, wie sonst in derartigen Motiven üblich, die Brust gibt. Es handelt sich also nicht um eine typische Darstellung der Maria lactans. Auffällig wirkt auch, daß das Jesuskind mit dem linken Zeigefinger auf Étienne Chevalier zu zeigen scheint.

Das Bild hing bis 1775 in der Kirche Notre Dame von Melun über der Grabstätte von Étienne Chevalier und seiner Ehefrau. Das hatte dieser testamentarisch so verfügt — und eigentlich sollte das Diptychon dort "auf ewig" hängen. Derartige Verfügungen waren nicht selten — sie gingen gewöhnlich mit einer größeren Spende an die Kirche einher. Aber 1775 benötigten die Domherren Geld für die Restaurierung der Kirche und verkauften das Gemälde kurzerhand.

Allerdings wurde das Diptychon nicht "am Stück" verkauft: Der rechte Flügel kam über Paris nach Antwerpen und der linke über Basel nach Berlin. Das Wissen um die Zusammengehörigkeit der zwei Teile ging verloren. Erst 1981 konnten entsprechende Vermutungen bestätigt werden: Beide Tafeln enthalten Teile der selben Eiche, die um 1446 gefällt wurde.

Seit mehr als fünfhundert Jahren regen die Geschichte des Diptychons, seine Schönheit, die Widersprüchlichkeit der Gestaltung und auch seine Spannung die Phantasie der Betrachter an. Und so war es schon eine kleine — oder größere — Sensation, als beide Bilder 2017 zusammen in der Gemäldegalerie Berlin gezeigt wurden. Das letzte Mal war das genau achtzig Jahre zuvor geschehen — 1937 anläßlich der Weltausstellung in Paris, damals noch ohne das konkrete Wissen um die Zusammengehörigkeit der beiden Teile.

Auch die Phantasie der Chemnitzer Historikerin Monja Schünnemann wurde durch die Betrachtung des Bildes angeregt. Sie fragte sich nämlich was man sehen — oder nicht sehen — würde, würde man beide Teile des Diptychons zusammenklappen. So, wie ursprünglich mal gedacht. Was genau ist dann den Blicken entzogen?

Dieser Gedanke fördert eine weitere Überraschung zu Tage: Es entsteht ein neues aber nicht sichtbares, nur in Gedanken existierendes, Bild mit einer vollständig neuen Bildaussage.

Dank allgemein verfügbarer Software läßt sich das leicht visualisieren:

Beide Bildnisse passen perfekt aufeinander. Das Jesuskind scheint auf dem Arm von Étienne Chevalier zu sitzen. Der hl. Stephanus wendet sich zwar ab, als wolle er da gar nicht so genau hinschauen, nichts davon wissen, wirkt aber dennoch so, als würde er schützend seinen Arm über Maria, Étienne und das Jesuskind halten. Und Maria? — Es sieht fast so aus, als habe sie sich zwischen Étienn und den Heiligen gedrängt. Sie blickt herab, ohne Étienne direkt anzuschauen. Étienne sitzt  da, schmiegt sich liebevoll an Maria, mit seiner linken Hand an ihrer Hüfte, wirkt aber trotzdem betrübt, ganz in Gedanken versunken geht sein Blick ins Leere. Es ist keine Pose, wie man sie von vielen glücklich Liebenden kennt. Eher die von Liebenden mit ganz eigenen Problemen.

Ein Hinweis auf eine verbotene und deswegen verborgene Liebesbeziehung zwischen Étienne Chevalier und Agnès Sorel, der Mätresse des Königs und einer der angesehensten Frauen des damaligen Frankreichs? — Gar auf ein gemeinsames Kind?

Das Bid entstand im Auftrag von Étienne Chevalier. Es ist mehr als fraglich, ob außer ihm (und dem Maler) irgendjemand was über seine Intention, ja überhaupt von der Existenz des "inneren" Bildes wußte. Was denkt Étienne?

Oder doch alles nur Zufall? Zufall und Überinterpretation? Wer weiß. Gegen den Zufall spricht jedenfalls, daß Fouquet die Kopfhaltung von Étienne und dem hl. Stephanus bis zur Fertigstellung mehrfach korrigiert hat. Bis genau dieser Bildeindruck entstand.

Ganz egal: Die Geheimnisse des Diptychons von Melun werden noch weitere fünfhundert Jahre die Phantasien seiner Betrachter anregen.

Agnès Sorel starb am 9. oder 11. Februar 1450 im Alter von nur 28 Jahren. Bei ihrem Tod war sie im siebenten Monat mit ihrem fünften Kind schwanger. Schon damals gingen Gerüchte um, daß sie im Auftrag des Thronfolgers, des späteren Königs Ludwig XI., durch Jaques Coeur vergiftet worden sei, Bewiesen wurden diese Gerüchte nie.

Bei einer forensischen Untersuchung ihrer Gebeine im Jahre 2004 wurde festgestellt, daß sie an einer Überdosis Quecksilber starb.

Comments